23.07.13

Volle Kante unter Vollmond: Neil Young & The Crazy Horse in Stuttgart


Weißkittel mit Albert-Einstein-Frisuren debattieren mit Bauarbeitern in orangefarbenen Leuchtwesten über den Aufbau des Bühnenbilds. Es ist heiß. Die Halle kocht, nicht nur wegen der hochsommerlichen Temperatur, wann endlich kommt er?
Doch Neil Young wäre nicht er selbst, würde er dieses irritierende Vorspiel vorzeitig beenden; also hampeln seine Mad Scientists so lange dämlich herum, bis das Publikum entnervt in Pfeifkaskaden ausbricht. Da endlich tappst er herein, gegen 21 Uhr, schwarz gewandet mit Jacke, Hut und dicken Stiefeln, was der schier unerträglichen Hitze in der Stuttgarter Schleyerhalle zu trotzen scheinen. Aber so kennt man ihn, gewisse rebellische Wüstenvölker leben nach dem gleichen Prinzip.
Riesige Verstärkerattrappen eines bekannten US-Instrumenteherstellers, dessen Vintage-Erzeugnisse der Meister des schräg-genialen Gitarrenspiels bekanntlich schätzt und hortet, sowie wuchtige Bildschirme im Sechzigerjahredesign vermitteln eine erstaunlich heimelige Atmosphäre. Mr Young aber kontrastiert die Gemütlichkeit. Er reiht sich mit seiner Truppe kerzengerade auf, die Deutsche Fahne weht, und wir hören unsere Nationalhymne vom Band. Ironie oder echte Hommage von einem Mann, der mit „Rockin’ In The Free World“ die deutsche Wiedervereinigung begleitete?
Wie immer gibt es bei Neil Young keine Erklärungen. Er macht einfach. Lässt sich seine legendäre schwarze 1953er Gibson-Gitarre umhängen und haut in die Saiten. Zwei Akkorde, gefühlt mindestens zwölf Minuten lang, „Love And Only Love“ …
O ewiger, zeitloser, schwerleichter Groove, den keiner so beherrscht wie Neil Young & Crazy Horse. Darauf haben wir gewartet. Ein epischer, archaischer Sound, den nur vier Mann erzeugen (und ein unversteckter Bühnentechniker, der die Spezialeffekte beisteuert). Ein Mann im Bühnengraben sorgt mit einem Handventilator dafür, dass die goldgelbe Reiter-Standarte stets stilvoll um Young bei seinen Soli weht. Zur gleichen Zeit erreicht der Vollmond über Stuttgart seinen Höhepunkt, und Young, der seine Alben angeblich bevorzugt bei Vollmond aufnimmt, zelebriert ein musikalisches Ritual, bei dem seine beiden Saitenspielerkollegen an Bass und Rhythmusgitarre ihm gegenüber stehen wie bei einem stampfenden Indianertanz; sie reiben sich aneinander auf, mit Wucht und Schlichtheit – es ist grandios. „Alchemie-Tour“ hat Young die aktuelle Konzertreise getauft, und tatsächlich vermengt der Meister der steifen Hand bei seinem erst dritten Gastspiel in Stuttgart vor rund 10.000 enthusiastischen Anhängern. Es ist eine einzigartige, willkürliche, laute, teilweise auch unverhohlen nervtötende Zeitreise, die mit Regengüssen über dem Woodstock-Logo spielt und dem aktuellen psychedelischen Revival etwas Authentisches vorsetzt, das überraschend viele junge Leute angezogen hat. Von seinen zahlreichen Krankheiten sichtbar gezeichnet, schafft es der Godfather of Grunge, zehnminütige Feedbackorgien und simple Straßenmusiker-Einlagen mit Mundharmonika zu etwas Ganzem zu vereinbaren. Nie hat man bei ihm das Gefühl, dass etwas von außen kommt; er erzeugt von innen heraus, steht ganz nah bei sich und zu seiner unverkennbar raren, auch widersprüchlichen Individualität. Und das erklärt und rechtfertigt, warum nach zwei ein halb wirklich anstrengenden Stunden mit seltenen und unbekannten Songs das Publikum unverdrossen mehr fordert, bis das Hallenlicht angeht und neonweich zum Aufbruch mahnt. Thank you, Neil Young - er hatte zur Zugabe „Like A Hurricane“ sogar seine Jacke ausgezogen!